Die Writing Prompts des Tages
- Herz & Seele
Was ist für dich das Licht, das es in deinem Innern hell werden lässt? - Familie & Beziehungen
Eine Reise zu den Großeltern verläuft ganz anders als geplant. - Magie & Wunder
Die Sterne können sprechen – aber nur an Heiligabend. Was erzählen sie? Und wem?
Meine Wahl: Die Reise zu den Großeltern.
Nelken, Zimt und Sägespäne
In rhythmischem Ruckeln rollte der Zug über die Gleise, die sich einsam durch die verschneite Landschaft schlängelten. Julia schaute aus dem Fenster und suchte nach der Kirchturmspitze, die hinter einer der nächsten Biegungen auftauchen musste und das kleine Dorf ihrer Großeltern ankündigte. Je vertrauter ihr die Umgebung wurde, desto deutlicher spürte sie, wie sehr ihr all das gefehlt hatte.
Wie viele Jahre mochten vergangen sein, seit sie zuletzt hierhergefahren war? Und wie viele mehr, seit dem letzten gemeinsamen Heiligen Abend? Sie konnte es nicht genau sagen, aber es waren definitiv zu viele.
Bis Julia etwa vierzehn Jahre alt gewesen war, ehe das Leben sie mehr und mehr in Beschlag genommen und von ihren ursprünglichen Plänen abgelenkt hatte, war sie davon überzeugt gewesen, dass sie später einmal hier leben würde. Es stand außer Frage, dass sie nirgendwo auf der Welt ein besseres Zuhause würde finden können, als bei Oma und Opa, wo es immer nach Zimt, Vanille und Nelken roch – und ein bisschen auch nach Sägespäne.
Mochte dieser Geruch den meisten Kindern auch unbekannt und wenig angenehm sein, so war er für Julia doch ein Stück Kindheit. Ihre Großmutter hatte früher im Sägewerk im Tal gearbeitet und in den Schulferien, die Julia für gewöhnlich bei ihren Großeltern verbracht hatte, war es ihre Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass Oma das Haus nach ihrer Mittagspause pünktlich wieder verließ. War sie eingeschlafen, sollte Julia sie wecken. „Nicht vergessen. Um fünf vor viertel vor!“, hatte Oma immer voller Ernst und mit erhobenem Zeigefinger gesagt.
Diese Erinnerung war eine von Julias liebsten und selbst heute noch, wenn sie auf die Uhr blickte und diese zufällig zwanzig vor irgendwas anzeigte, wurde ihr jedes Mal aufs Neue warm ums Herz und sie war für einen Moment wieder das kleine Mädchen, das in der Küche ihrer Großeltern auf der mit dunkelgrünem Brokatstoff bezogenen Holztruhe saß, während Oma pfeifend am Herd stand und in einem Topf herumrührte.
In den letzten Jahren hatte sie sich immer seltener bei ihren Großeltern gemeldet – das Studium, die Arbeit, der Alltag. Irgendwas war immer dazwischengekommen.
Doch nicht so dieses Jahr. Gleich würde sie ihre Familie wiedersehen und alle gemeinsam würden sie auf dem gemütlichen Dreiseitenhof ihrer Großeltern Weihnachten feiern. Wie sie es früher schon so oft und schon viel zu lange nicht mehr getan hatten.
Julia hatte Kekse gebacken, ein Fotobuch erstellt und eine Decke hatte sie auch gestrickt. Oma, die sich selbst immer als „alte Frierhutzel“ bezeichnete, würde sich über dieses persönliche Geschenk sicher sehr freuen, da war Julia sicher. Ihre Vorfreude war riesig.
Ihr Handy vibrierte. Ohne viel nachzudenken griff sie danach und schaute aufs Display. Ihre Mutter.
„Grade taucht der Kirchturm auf, ich bin gleich da“, ließ Julia ihre Mutter direkt wissen. „Ihr müsstet den Zug eigentlich schon hören können.“ Julia lachte, doch am anderen Ende blieb es still.
„Mama?“ Julias Lachen wich einer besorgt gerunzelten Stirn.
„Julia“, begann ihre Mutter und der Tonfall ihrer Stimme ließ Julia erstarren.
„Mama, was ist los?“
„Es ist so furchtbar!“, schluchzte ihre Mutter. „Oma …“.
Ihre Stimme brach.
Der Zug schien stillzustehen, während die letzten Meter ihrer Reise an Julia vorüberzogen. Unfähig, die Worte ihrer Mutter zu begreifen, starrte sie aus dem Fenster. Die Freude, die sie noch vor Minuten gefühlt hatte, verwandelte sich in ein Meer aus Schuldgefühlen. Warum war sie nicht früher gekommen? Warum nur hatte sie so lange gewartet? Und wieso ausgerechnet heute?
Als Julia auf den Bahnsteig trat, fühlte sich alles um sie herum unwirklich an. Die Welt war in Schnee gehüllt und die Straßen still, als wollten sie verheimlichen, was passiert war. Sie folgte den vertrauten Wegen und zog ihren Rollkoffer hinter sich her. Als Erstes sah sie die dicken Rauchwolken, die der Schornstein in den weihnachtlichen Abendhimmel schob, dann brach die Weihnachtsbeleuchtung durch die Büsche, die in dem kahlen Walnussbaum neben der Einfahrt und an der Dachrinne des Anwesens befestigt war und den Hof ihrer Großeltern, wie zum Trotz, in ein einladendes Licht tauchte. „Das hätte Oma gefallen“, dachte Julia und musste lächeln.
Sie trat ein. Der Duft von frisch gebackenen Plätzchen und Nelken, die in einer Schale auf der antiken Kommode im Flur deponiert waren, seit Julia denken konnte, stieg ihr in die Nase und fast war ihr, als hörte sie ihre Großmutter in der Küche pfeifen. Ihre Mutter berührte sie kurz am Ellbogen, doch Julia nahm weder sie noch die anderen Anwesenden wirklich wahr.
Ihr Großvater saß in seinem abgewetzten Ohrensessel in der Stube , die Schultern gebeugt, den Kopf in die faltigen Hände gestützt. Als er seine Enkelin bemerkte, stand er auf und für einen Moment schien es, als wollte er etwas sagen. Doch dann schloss er sie einfach in die Arme und beide weinten.
Den Abend verbrachte die Familie damit, alte Fotos herauszusuchen, Kerzen anzuzünden und Geschichten von früher zu erzählen. Julias Großvater nickte gelegentlich, doch die meiste Zeit war er still.
Als die Nacht hereinbrach, stand Julia auf und holte die Decke aus ihrer Tasche.
„Die habe ich für Oma gemacht“, sagte sie leise, „aber ich glaube, sie würde wollen, dass du sie bekommst.“
Ihr Großvater hielt die Decke in seinen Händen, als wäre sie ein zerbrechlicher Schatz.
„Deine Großmutter war so stolz auf dich“, flüsterte er schließlich. „Sie hat dich mehr geliebt, als sich selbst.“
Julia nickte, Tränen liefen ihre Wangen hinunter.
„Ich weiß. Ich hätte euch viel häufiger besuchen sollen“, flüsterte sie. „Es tut mir unendlich leid.“
Draußen begann es erneut zu schneien und schon nach kurzer Zeit war die Welt in eine weiße Decke aus Neuschnee gehüllt und trotz ihrer Trauer empfand Julia ein fast schon seltsam tröstendes Gefühl von Nähe und Verbundenheit. Oma würde nicht mehr mit am Tisch sitzen, doch sie würde dennoch für immer bei ihnen sein – in den gemeinsamen Erinnerungen, im Duft von Zimt, Vanille und Nelken und in der Wärme der Decke, die ihren Großvater umhüllte.
Es war ein stilles Weihnachtsfest – doch war es nicht ohne Liebe.
Rebecca | Schreibtrunken





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