Vergebung

Vergebung – ein Wort, das auf der Zunge zergeht wie ein Tropfen Honig und doch so schwer zu greifen bleibt. Wir sprechen von Vergebung, als sei sie ein Akt göttlicher Gnade, eine Brücke über den Abgrund, der uns voneinander trennt. Doch wer baut diese Brücke? Und wer gibt sie in Auftrag? Ist er dazu über kompetent genug?

Die Unschuld der Absicht

Kein Mensch handelt im Vakuum. Jede Tat, ob von Licht oder Schatten geprägt, entspringt einem inneren Glauben, einer Überzeugung, einem Drang, der im Moment unausweichlich erscheint. Und wie könnten wir, wenn wir von der Richtigkeit unseres Handelns überzeugt sind, bewusst falsch handeln?

Der Dieb stiehlt, um zu überleben; der Verräter glaubt, sich retten zu müssen; wer hasst, handelt häufig aus Angst oder diversen anderen Gründen. Selbst die schmerzhaftesten Wunden, die wir tragen, wurden nicht von Händen verursacht, die ausschließlich Böses wollten – sondern von Menschen, die aus ihrer Sicht keinen anderen Weg sahen.

Könnten wir die Abgründe des anderen mit den Augen der Gnade betrachten, wäre Vergebung nicht mehr als ein unnötiger Gedanke. Denn was ist ein Fehler, wenn nicht ein missglückter Versuch, das Richtige zu tun?

Der Spiegel der Fehler

Vielleicht halten wir an der Idee der Vergebung fest, weil wir uns selbst schwer vergeben können. Unsere Enttäuschung über andere ist oft nur ein Schatten unserer eigenen Unzulänglichkeit. Deren „Fehler“ geben uns die Möglichkeit, uns über sie zu erheben – und gleichzeitig erinnern sie uns daran, wie oft wir selbst schon gefallen sind.

Doch wenn wir alle in diesem Spiel der Menschlichkeit taumeln, wie könnten wir uns gegenseitig verurteilen? Jeder von uns ist ein Wanderer auf unsicherem Boden, getrieben von Ängsten, Wünschen, Hoffnungen. Wir stolpern, verletzen, wachsen – und ja, manchmal wiederholen wir die gleichen Fehler. Es gibt kein Handbuch für das Menschsein, keinen fehlerlosen Weg. Warum also den anderen anklagen für das, was wir selbst so oft tun?

Das Ende der Vergebung

Vergebung wird unnötig, wenn wir aufhören, im Handeln der anderen einen persönlichen Angriff zu sehen. Der Schmerz, den sie verursachen, ist selten ihre Absicht. Sie sind genauso gefangen in ihren Geschichten, Ängsten und Wahrheiten wie wir. Wenn wir erkennen, dass es keine Feinde gibt – nur Seelen, die um Orientierung ringen – wird Vergebung überflüssig. Denn dann gibt es nichts mehr zu vergeben, nur noch zu verstehen.

Vergebung ist ein Geschenk, das wir uns selbst machen, heißt es oft. Aber vielleicht ist es kein Geschenk, sondern eine Kapitulation vor der Einsicht: Die Welt ist nicht gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht. Sie ist, was sie ist – ein Fluss aus Fehlern, Erkenntnissen, Versuchen und Irrtümern. Und in diesem Fluss schwimmen wir alle, manchmal verzweifelt, manchmal frei.

In Frieden sein

Statt zu vergeben, könnten wir uns auch darin üben, zu verstehen. Statt zu richten, könnten wir uns erinnern, dass jeder, der uns verletzt, auf dieselbe Weise verletzt wurde. Vergebung ist nicht die Brücke über den Abgrund, sondern die Erkenntnis, dass der Abgrund nie existierte. Es gibt nichts zu vergeben, nur die leise, alles durchdringende Wahrheit zu akzeptieren: Wir alle tun, was wir können – mehr nicht.


Das nur nochmal als kleine Fußnote …

Viele Grüße,
Rebecca | Schreibtrunken


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