Reizwortgedicht zum Thema „Die gläserne Wand“ – für mich ein Sinnbild für unzureichende Inklusion.
Wenn ich kein Mensch
mit Behinderung wäre
Ich würde Treppen hinauflaufen,
ohne Blicke, die fragen, ob ich es schaffe,
durch Türen gehen, die nicht zu schmal sind
und über Wege fahren, die weiter führen,
als zur nächsten Bordsteinkante.
Ich würde Worte sprechen,
ohne dass man sie verbessert,
meine Stimme erheben,
ohne dass es ein Wunder wäre,
und bei Veranstaltungen alles hören,
selbst dann,
wenn niemand im Saal ist,
der Gebärdensprache spricht.
Ich würde arbeiten,
ohne dass es eine „Chance“ ist,
und Leben hieße einfach „Leben“
anstatt „Inklusion“.
Ich würde lernen,
ohne dass jemand entscheidet,
was zu schwer für mich ist,
einkaufen,
ohne dass die Regale
zu hoch sind,
ins Kino gehen,
ohne dass der beste Platz
der einzige ist.
Ich würde eine Wohnung anmieten,
weil sie mir gefällt und nicht,
weil sie barrierefrei ist –
und es wäre mir auch egal,
wie groß das Badezimmer ist
oder ob das Haus einen Fahrstuhl hat.
Ich würde reisen,
ohne vorher zu fragen,
ob ich willkommen bin,
zum Arzt gehen,
ohne dass meine Behinderung
meine Krankheit erklärt,
feiern und tanzen bis zum Morgenrot –
und niemand würde meine Anwesenheit
als mutig bezeichnen.
Ich würde ernst genommen,
ohne dass es eine Geste der Güte ist
und ich würde geliebt –
nicht trotz meiner Behinderung,
auch nicht wegen –
sondern einfach nur so.
Niemand würde den bewundern,
der mich liebt oder sich fragen,
aus welchem Grund er wohl wirklich
mit mir zusammen ist.
Ich würde Nein sagen,
ohne dass man mir abspricht,
zu wissen, was ich will.
und Ja sagen, zu Träumen, zur Liebe
und zum Leben –
und keiner würde mir erklären,
dass meine Ziele zu groß für mich sind.
Wenn ich kein Mensch
mit Behinderung wäre,
gäbe es keine gläserne Wand
zwischen mir und der Welt.
Keine Blicke voller Mitleid
oder Staunen über meine Normalität.
Kein Lob für meine bloße Existenz –
als wäre sie ein Akt des Widerstands
gegen die Natur.
Es gäbe keine Diskussionen darüber,
wie ich „teilhaben“ kann.
Keine Barrieren aus Beton
oder in den Köpfen der Menschen.
Keine Sonderregelungen
und keine Ausnahmen –
nur ein Leben wie jedes andere.
Es gäbe nur mich – als Teil dieser Welt.
Einer Welt ohne „Wir“ und „Ihr“,
ohne Grenzen zwischen „normal“ und „anders“,
stattdessen voller Möglichkeiten –
unabhängig davon,
wie ich aussehe oder was ich kann.
Einer Welt, in der Treppen
nicht das Ende des Wegs bedeuten,
Türen sich für jeden öffnen,
das Selbstverständliche nicht bestaunt
und Alltägliches nicht bewundert wird.
Einer Welt voller Respekt
für jeden Menschen und sein Leben
und in der man sich nicht bemühen muss,
dass ich dabei sein kann –
weil ich ganz selbstverständlich
d a z u g e h ö r e.
Nicht mehr. Und nicht weniger.
Wenn ich kein Mensch
mit Behinderung wäre.
Rebecca | Schreibtrunken






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