Ich  habe das Singen verloren

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Es gibt Zeiten, in denen wir unsere Herzensdinge verlieren. Nicht, weil wir sie nicht mehr lieben. Sondern weil das Leben und der Alltag es eben so mit sich gebracht haben. Ein Tag reiht sich an den nächsten, laut und fordernd, bis das Leise keinen Platz mehr hat. Und irgendwann liegen sie da, verstaubt in einer Schublade oder tief in uns selbst – unsere Hobbys, unsere Leidenschaften, das, was uns ausmacht.

Manchmal merken wir gar nicht, wie viel wir mit ihnen verloren haben. Doch irgendwann kommt dieser eine Abend, an dem wir vor dem Spiegel stehen und uns selbst nicht mehr ganz erkennen. Irgendetwas fehlt. Etwas, das früher leicht war, das uns getragen hat, das uns Freude gemacht hat, ohne Zweck, ohne Ziel – einfach, weil es unser Herz berührt hat.

So ähnlich geht es mir mit dem Singen. Ich habe schon immer gesungen, es war sogar vor dem Schreiben da und gemeinsam mit der Literatur wurde es zu dem roten Faden, der mich an dieses Leben band.

In letzter Zeit singe ich nicht mehr. Meine Lieder sind verstummt. Knappe zwei Jahre dürften es nun sein – wie sehr sie mir fehlen, das fiel mir heute Morgen auf, als ich zufällig über dieses Video hier gestolpert bin. Es ist vielleicht sogar das letzte Lied, das ich bewusst gesungen habe. Und dann noch ein Gedicht von Rilke … Ich liebe Rainer Maria Rilke, ohne ihn und Mascha Kaléko wäre ich womöglich nie zur Lyrik gekommen …

Und während ich mir da so zuhörte – und sehen konnte, wie sehr das Singen mein Herz berührt, wurde ich plötzlich ziemlich trübsinnig.

Und wie so oft, wenn das der Fall ist, will dieses Gefühl dann in Worte gepackt werden. Und das hab ich dann getan.

Und du? Was hast du verloren?

Und möchtest du nicht vielleicht versuchen, es dir zurückzuholen?

Ich habe das Singen verloren

Ich habe das Singen verloren,
nicht plötzlich, sondern ganz sacht,
zwischen all diesem Müssen und Sollen,
im Alltag, den Sorgen – der Nacht.

Dabei war es einst mein Heimweg,
mein Trost im Dämmerlicht,
die Sprache meiner Seele,
singend hörte und spürte ich mich.

Ich sang, wenn ich weinte, und wenn ich zerbrach,
wenn die Welt mir zu laut war, kein Morgen versprach;
die Lieder, sie trugen mich weit mit sich fort,
waren mir Heimat – mein Wohlfühlort.

Doch ich ließ die Töne hinter mir,
wie im Frühling den Schal auf der Bank.
Leider kann ich mich nicht mehr erinnern,
an welcher Stelle die Bank damals stand.

Ich weiß, es braucht Zeit, und nicht nur ein Ziel,
ein Lauschen, ein Gehen, ein sanftes Gespür –
ich möchte so gern diesen Ruheort finden,
will zurück zu der Stimme, zu den Liedern in mir.

Denn ich glaube, dort, wo das Singen wohnt,
wo ein Lied sich über das Schweigen erhebt,
dort kann ich sein, dort kann ich mich fühlen –
dort ist die Heimat von allem, was lebt.

Rebecca | Schreibtrunken


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2 Antworten zu „Ich habe das Singen verloren”.

  1. Avatar von Im Wörterwald

    wunderschön!

    (Gibt es auch etwas, was Du nicht gut kannst?)

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    1. Avatar von Rebecca
      Rebecca

      Ich freu mich, dass es dir gefällt – danke schön! 🙏 – Und lass dir versichert sein: Ja. Da gibts ne Menge. 🥴 Dieses Internet ist nur ein kleines Taschenlampenlicht. Der Großteil liegt im Dunkel. 🤐 Hab ein schönes Wochenende! 🍀

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