29. Dezember 2025. Heute vor 99 Jahren starb Rainer Maria Rilke.
Rilke hat mich die Liebe zur Lyrik gelehrt und ich bin mir ziemlich sicher, dass es meine eigene ohne ihn niemals gegeben hätte – deshalb wollte ich zu seinem heutigen Todestag natürlich auch unbedingt ein paar Zeilen tippen.
Ich hatte erst einen Sachtext verfasst. Dann einige Verse. Irgendwie wollte nichts so wirklich richtig erscheinen. Tut es noch immer nicht, da ich ihm aber noch nie einen Brief geschrieben habe, dachte ich, es wäre langsam mal an der Zeit.
Na dann …
„Denn das ist das Schwerste:
lieben, wie man loslässt.“
— Rainer Maria Rilke
Lieber Rainer,
ich wollte dir schon lange schreiben, doch ich habe mich nie getraut.
Nicht, weil ich nichts zu sagen hätte – sondern weil ich lange geglaubt habe, man müsse dir mit Abstand begegnen. Mit Respekt. Mit einer gewissen Ehrfurcht, die verhindert, dir zu nah zu treten.
Dabei ging es mir mit deinen Texten immer um Nähe.
Du konntest sie beschreiben wie kaum ein anderer. Du konntest sie genau benennen. Ihre Leichtigkeit wie ihre Schwere, ihre Schönheit und auch ihre Gefahren.
Früher habe ich gedacht, dass jemand, der so über Nähe schreibt, sie auch intensiv gelebt haben muss – doch irgendwann musste ich erkennen, dass das ein Trugschluss war.
Wenn du auch wie kein Zweiter über Nähe geschrieben hast – aushalten … aushalten konntest du sie nicht. Nicht etwa, weil du zu kaltherzig gewesen wärst, wohl eher, weil sie dich überfordert hat, denke ich.
Ich stelle mir vor, dass sie dir zu eng wurde, sobald sie real war. Dass sie etwas von dir forderte, wofür du keinen sicheren Boden hattest:
Ruhe.
Verlässlichkeit.
Ein Bleiben im eigenen Inneren.
Und dann ist Nähe nun mal auch kein Ort, an dem man sich verstecken kann. Vielleicht war sie dir deshalb gefährlich.
Was du gebraucht hast war Distanz. Mit deiner Kunst hast du sie dir geschaffen – leise, doch konsequent. Du hast Einsamkeit verteidigt, sie erhöht, sie zur Voraussetzung erklärt, um überhaupt zu sich selbst finden zu können.
Lange habe ich diese Zeilen als Erlaubnis gelesen, mich unter dem Mantel meiner mitunter viel zu großen Pläne zu verstecken. Das ist heute anders.
Ich erkenne mich zwar noch immer darin wieder – in dem Bedürfnis nach Raum, im schnellen Rückzug, wenn Nähe nicht mehr poetisch, sondern konkret wird, und ich sage dann vielleicht auch:
Ich brauche Abstand.
Aber ich glaube nicht mehr, dass Einsamkeit die Voraussetzung ist, etwas aus sich zu machen. Was wir vielleicht in Wahrheit meinen, wenn wir uns zurückziehen:
Ob das bei dir nicht auch so gewesen sein könnte, Rainer?
Ich denke, so unähnlich sind wir uns da gar nicht, mit dem Unterschied, dass du etwas daraus gemacht hast. Etwas Bleibendes. Etwas, das anderen Menschen Halt gibt. Wenn du auch viel zu jung gestorben bist, so hast du doch das (wie ich finde) Beste gemacht, aus dem, was man dir ins Leben mitgegeben hat …
Wäre doch nur das mit dieser Liebe nicht gewesen … Das war für dich ja auch so ein Thema.
Du hast sie häufig als „Aufgabe“ beschrieben, nicht als Zuflucht. Und vielleicht war sie das für dich auch. Eine, an der man scheitern kann, ohne je aufzuhören, sie ernst zu nehmen. Ob man dir vorwerfen darf, dass du so oft gegangen bist, wenn die Menschen dir zu nah kamen? Ich weiß es nicht.
Doch wenn ich heute auf dein Leben schaue, frage ich mich, wie gut man ein enges Miteinander wohl lernen kann, wenn man sich schon früh kaum gehalten gefühlt hat. Nähe lernt man nicht aus Sehnsucht. Man lernt sie aus Erfahrung. Und die hattest du nur begrenzt.
So sehr ich dein Vermächtnis auch verehre, die Gründe, die (vermutlich) zu seiner Entstehung geführt haben, sind vermutlich nicht halb so poetisch, wie deine Werke.
Die Menschen finden sich in dir wieder – funktionieren viele von uns doch recht ähnlich. Wir sind klug. Sensibel. Tiefgründig. Und innerlich völlig überfordert.
Deine Texte spiegeln, was andere fühlen, aber nicht einsortieren können. Du konntest das oft auch nicht – und hast genau das in Worte gefasst. Und plötzlich hatte man selbst auch ein bisschen mehr Recht auf all dieses „Nicht-Begreifen“.
Heute frage ich mich, ob ich mich wirklich in dir erkannt – oder ob ich mich hinter dir versteckt habe. So oder so – ich denke, es war nicht fair, einen Menschen, dich, auf sein Werk zu reduzieren. Aus einem Suchenden eine fast schon allwissende Instanz zu machen. Aus Fragen Antworten.
Aber es machte das Leben auf gewisse Weise leichter – wenn sich auch nichts änderte. Doch solange ich deine Einsamkeit zu verstehen glaubte, konnte ich meine eigene rechtfertigen. Ja, ich denke, so kann man das wohl sagen.
Zwar hast du es zum Glück doch noch geschafft, deine Elegien zu vollenden, dennoch gehörst du für mich zu jener Sorte Mensch, die nie angekommen sind. Immer auf der Suche waren. Mehr wollten, als das, was ihnen vergönnt war. Ich hätte dir dieses Mehr gewünscht. Und vor allem: weniger Suche.
Viele Fragen, deren Antworten ich früher in Büchern gesucht habe, muss ich mir heute selbst stellen und vielleicht ist das ja doch auch ein wenig dein Verdienst. Du hast mich nicht den Weg gelehrt – sondern die Fähigkeit, unbeantwortete Fragen anzunehmen, auszuhalten und mit ihnen im Gepäck weiterzugehen und weiterzusuchen.
Und vielleicht ist das schon unendlich viel mehr, als das, was ein Mensch in der Regel in einem anderen bewirkt. Annehmen, was ist.
Dafür hab Dank, Rainer – und möge deine Seele Frieden gefunden haben.
Rebecca
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