Die heutige Schreibanregung ist dann doch mal wieder was für mich. Nun denn …
Mein liebes, 100-jähriges Ich,
hast du wirklich so lange gelebt? Ein ganzes Jahrhundert?
Hundert Frühlinge, hundert Winter, hundert Sommerregen auf deiner Haut.
Ich hätte nie gedacht, dass wir es so weit schaffen.
Damals, als die Dunkelheit mir zuflüsterte, dass es besser wäre, nicht zu bleiben.
Weißt du noch? Keine zehn Jahre warst du alt, als du bereits glaubtest, die Welt sei zu schwer für deine Schultern. Sechzehn, als du sie fast hinter dir gelassen hättest. Fünfundzwanzig, als du wütend warst, weil sie dir noch immer nicht leichter geworden war und über vierzig, als du dich gefragt hast, ob deine Wunden jemals heilen würden.
Und doch bist du noch hier.
Hundert Jahre schon.
Wie oft bist du gefallen und wieder aufgestanden?
Wie oft hast du gezweifelt und doch weitergemacht?
Wie viele Sonnenaufgänge hast du gesehen, die du fast verpasst hättest?
Wie viele Lieder hast du gehört, die du nicht mehr hören würdest, wärst du nicht mal zwanzig geworden?
Ich schreibe dir, weil ich begreifen möchte, wie das alles möglich war?
Ob es einen bestimmten Wendepunkt gab –
oder ob es einfach das stete Weitergehen war,
Schritt für Schritt, Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Ich stelle mir vor, wie du nun dort sitzt,
hundert Jahre Weisheit in deinen Händen,
die Falten in deinem Gesicht nicht nur Zeichen der Zeit,
sondern Landkarten all der Wege, die du gegangen bist.
Ich frage mich, welche Geschichten du erzählen würdest.
Von Tagen voller Schmerz? Ja, ganz gewiss.
Aber auch von jenen, die dein Herz füllten.
Von Worten, die wärmten.
Von Tränen, die nicht nur aus Trauer, sondern auch aus Lachen fielen.
Ich danke dir, dass du geblieben bist.
Dass du mir gezeigt hast, dass selbst das Schwere seinen Platz hat.
Dass das Leben heller werden kann – nicht, weil plötzlich alles perfekt ist,
sondern weil man lernt, die Schatten zu tragen.
Und ich schreibe diesen Brief für jemanden, der ihn gerade lesen muss.
Jemanden, der glaubt, es nicht zu schaffen.
Jemanden, der in der Dunkelheit sitzt und sich fragt, ob es jemals heller wird.
Diesem Jemand möchte ich sagen:
Bleib. Atme. Warte.
Du musst nicht wissen, wie es weitergeht – nur, dass es weitergeht.
Und dass es immer noch etwas gibt, das du noch nicht erlebt hast.
Einen Sonnenaufgang, den du noch nicht gesehen hast.
Ein Lied, das du noch nicht gehört hast.
Ein Lächeln, das du noch nicht erwidert hast.
Glaub mir, das Leben ist da für dich.
Selbst dann, wenn du denkst, es hätte dich vergessen.
Und manchmal – ganz unerwartet – schenkt es dir Gründe zu bleiben.
Ich weiß, du glaubst mir nicht. Ging mir genauso.
Und doch sitze ich hier, schreibe diesen Brief,
und bin einhundert Jahre alt.
Und das allein ist Grund genug.





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