Es ist Sonntagmorgen, draußen schüttet es, und während ich mich durch den endlosen Strom perfekt inszenierter Instagram-Glückseligkeit scrolle (zugegeben: da kann man hier und da schon mal bisschen neidisch werden), scheint der Algorithmus den Ernst der Lage erkannt zu haben und beschenkt mich mit der einmaligen und zeitlich streng limitierten Offerte, mein Leben mit einem kostenlosen Mindset-Kurs radikal zu verwandeln – nach oben, versteht sich, denn: THE ONLY WAY IS UP, BABY!
Allerdings nur, wenn ich mich innerhalb der nächsten fünf Minuten entscheide, die im Sekundentakt am oberen Rand meines Handys verstreichen und meine stetig geringer werdenden Chancen, vielleicht doch noch irgendwas Sinnvolles aus meinem tief in mir schlummernden Potenzial zu machen, gnadenlos herunterzählen.
Ich bin schon fast geneigt, draufzuklicken (kost‘ ja nix), doch die Bäume, die sich vor meinem Wohnzimmerfenster im Wind biegen, erregen meine Aufmerksamkeit – und dann biegen sich auch meine Gedanken.
„The only way is up“ … Sicher. Weiß man doch. Höher, schneller, weiter muss es gehen. Bloß kein Stillstand und (Gott bewahre!) erst recht keinen Rückschritt.
Als gäbe es nur eine Richtung, als wäre das Streben nach oben, nach Licht, nach Erfolg, der einzige Weg, der zählt. Wer so denkt, verkennt das leise Wunder des Lebens und vergisst das Geheimnis des Wachsens. Kein Baum, keine Blume, kein Mensch wächst nur nach oben. Und schon gar nicht von Anfang an.
Aber wir sehen sie auf unserem Weg immer wieder, diese majestätischen Bäume, deren Kronen stolz im Wind tanzen, während ihr Blattwerk eindrucksvoll im Sonnenlicht glänzt.
Wir bewundern ihre Höhe, ihre Kraft, ihre Schönheit. Doch wir sehen nicht, was unter der Erde geschieht. Wir vergessen, dass jeder Baum, bevor er sich dem Himmel zuwendet, zuerst in die Dunkelheit wächst.
Seine Wurzeln graben sich tief in die Erde, suchen Halt im Unsichtbaren, im Feuchten, im Schatten. Dort unten, im Verborgenen, entsteht die wahre Kraft, die ihn trägt. Ohne dieses Wurzelwerk, ohne das mutige Vordringen in die Tiefe, gäbe es kein Aufrichten, kein Blühen, kein Leben in Wind und Sonne.
Sind wir nicht alle ein bisschen wie Bäume?
Wir sehnen uns nach oben, nach Anerkennung, nach Erfolg. Wir vergleichen, zählen Blätter und Früchte an fremden Ästen, staunen über das grüne Dach der anderen. Doch was wissen wir von ihrem Wurzelwerk?
Wer sieht die Dunkelheit, durch die sie gingen, die Stürme, die sie aushielten, die Verzweiflung, die sie überwinden mussten? Wer ahnt, wie tief sie graben mussten, um Halt zu finden, um nicht vom ersten Windstoß entwurzelt zu werden?
Zu glauben, der einzige Weg führe nach oben, ist ein Irrglaube.
Wir müssen hinabsteigen, uns verwurzeln, uns mit dem Dunklen, dem Ungewissen, dem Schmerzhaften auseinandersetzen. Erst dort, im Schatten, in der Stille, wächst unser Fundament. Erst dort lernen wir, was uns trägt, was uns nährt, was uns hält.
Vielleicht sollten wir öfter innehalten und nicht nur nach oben schauen. Vielleicht sollten wir uns selbst und anderen mehr Zeit geben, in die Tiefe zu wachsen. Vielleicht liegt das wahre Wunder des Lebens nicht im schnellen Emporstreben, sondern im geduldigen Verwurzeln in der Dunkelheit – nur, wer sie kennt, kann das Licht wirklich schätzen.
Die Notwendigkeit, sich in die Tiefe zu begeben, endet aber nicht mit dem ersten Grün, das es dann irgendwann doch mal ans Tageslicht geschafft hat.
Auch dann nicht, wenn wir schon einige Meter in die Höhe ragen.
Wie bei einem Baum sind es gerade die unsichtbaren, dunklen Phasen, die Zeiten der Unsicherheit, des Zweifelns oder der Stagnation, in denen unsere Wurzeln stärker werden. Diese Phasen geben uns künftig stärkeren Halt, die Fähigkeit, weiterzuwachsen und vielleicht sogar noch schöner zu blühen.
- In der Tiefe entwickeln wir Selbstkenntnis und innere Stärke, weil wir uns mit uns selbst auseinandersetzen müssen.
- Rückschläge und Krisen sind oft die Auslöser für nachhaltige Veränderungen und neue Perspektiven.
- Jede Tiefenphase ist eine Investition in unsere Standfestigkeit: Je tiefer die Wurzeln, desto höher das mögliche Wachstum.
Ich denke, es ist wichtig, die tiefen oder auch dunklen Phasen anzuerkennen, willkommen zu heißen, zu schätzen.
Es kann hilfreich sein, im Nachhinein einmal in sich zu gehen und sich zu fragen:
Ich bin sicher, dass es da allerhand gibt …
Und auch, wenn die Baum-Metapher immer wieder als Symbol für menschliches Wachstum hergenommen wird, wie oft denken wir denn wirklich an das, was da im Verborgenen vorgegangen sein muss, lange bevor es sich im Außen manifestiert hat?
Wenn wir Menschen bewundern, weil sie irgendeine Sache nahezu meisterhaft beherrschen und denen Dinge wie von selbst von der Hand zu gehen scheinen? Menschen, die „für gerade mal zehn Minuten Arbeit“ einen Haufen Geld bekommen – was ja wohl total ungerecht ist!
Was sie geleistet haben, dass ihr Tun ihnen heute so leicht fällt, das wird in der Regel nicht registriert – sieht ja auch keiner. Aber es hat definitiv stattgefunden.
Es bringt nichts, auf die ach so hübschen Blüten der anderen Bäume neidisch zu sein. Sie blühen nicht ohne Grund – und den finden wir in der Tiefe. Dort liegen die Wurzeln verborgen, die die Voraussetzung für tragfähige Äste und reife Früchte sind.
Wenn wir uns also mal wieder in einer Phase unseres Lebens befinden, in der wir
dann sind das in der Regel Anzeichen dafür, dass wir uns gerade im Schatten befinden – dort, wo fernab von äußerer Wahrnehmung Wachstum geschieht – wenn es sich für uns zunächst auch so anfühlt, als ginge rein gar nichts voran.
Frag mal den Löwenzahn, der sich mit dem Kopf voran durchs Pflaster gebohrt hat … Sie dienen dazu, innere Stärke, neue Perspektiven und ein tieferes Selbstverständnis zu entwickeln – eben jene „Wurzeln“ die uns später tragen und wachsen lassen.
The only way is up?
Nice try … Aber nicht für mich.
Einen schönen Tag dir noch –
in welche Richtung du auch wachsen magst. 🙂
Rebecca | Schreibtrunken





Hinterlasse eine Antwort zu Uli Reiner Antwort abbrechen