Über Nähe, Muster, Verletzungen und die Möglichkeit, neu zu lernen
- Wie Bindung entsteht
- Wie sie sich im späteren Leben zeigt
- Warum „So bin ich halt“ nicht stimmt
- Wo Heilung beginnt
- Somatische Übung
Jeder kennt es: Manchen Menschen begegnet man zum ersten Mal und fühlt sich ihnen sofort verbunden, bei andere dagegen weiß man schon nach wenigen Sekunden:
Warum reagieren Herzen, wie sie reagieren? Warum schmelzen sie bei manchen Menschen dahin, während sie bei anderen hart bleiben? Wieso lösen manche Worte ein sanftes Echo in uns aus und andere prallen ab, wie Regen von der Fensterscheibe?
Es ist ein Trugschluss, zu glauben, wir würden uns „aus freien Stücken“ zu anderen hingezogen fühlen. Das entscheiden wir nicht bewusst – nicht heute.
Und wir lieben auch nicht einfach so. Wir lieben mit unserer Geschichte.
Bindung ist ein Gipsabdruck – geformt aus frühen Momenten.
Aus Armen, die uns hielten, oder nicht hielten, aus Nähe, die uns beruhigte, oder überforderte, aus Stimmen, die uns verstanden, oder uns einredeten, dass es Blödsinn ist, was wir da empfinden, denken, tun – schlicht: dass falsch ist, wie wir sind.
Wir tragen unsere Kindheit
mit in jede Beziehung,
ob wir wollen oder nicht.
Wie Bindung entsteht
Bindung ist der erste unsichtbare Faden, der uns mit der Welt verbindet.
Ein Blick,
eine Stimme,
eine Berührung.
Das sind die Bausteine, aus denen unser inneres Zuhause entsteht.
Wenn ein Kind gehalten wird, wenn jemand zuverlässig reagiert, wenn Tränen beantwortet und Bedürfnisse gespürt werden, dann lernt das Nervensystem:
„Ich bin sicher.“
„Ich bin liebenswert.“
„Die Welt schaut nach mir.“
Diese Kinder wachsen deshalb auch nicht alle in perfekten Umständen auf, aber sie wachsen mit Vertrauen auf.
Andere Kinder – Kinder, die sich der Nähe ihrer Bezugspersonen nie sicher waren, deren Eltern selbst verletzt waren, deren Gefühle keinen Platz hatten, lernen etwas anderes:
„Ich muss vorsichtig sein.“
„Ich muss funktionieren.“
„Ich darf nicht stören.“
„Ich weiß nicht, ob die Dinge bleiben,
wie sie sind.“
Mit diesen Erfahrungen im Rücken wird Bindung zu etwas potentiell „Gefährlichem“. Etwas, das sich schwer einschätzen und dessen Folgen nicht vorhersehbar sind.
Wie sich Bindung später in unserem Leben zeigt
Es liest sich bestimmt ziemlich desilussionierend und total unromantisch, aber wir verlieben uns nicht in Menschen – wir verlieben uns in der Regel in ein vertrautes Gefühl. In ein Echo von früher. Ganz gleich, ob das etwas Positives oder Negatives bedeutet.
Unser Nervensystem unterscheidet nicht in „gut“ oder „schlecht“, es sortiert lediglich in „kenn ich“ / „kenn ich nicht“ – in vertraut und fremd, und wie kleine Kinder eingetrichtert bekommen, dass sie mit Fremden nicht mitzugehen haben, so lautet auch die Devise unseres Nervensystems: Finger weg von Unbekanntem! – Selbst dann, wenn das Unbekannte etwas Schönes ist. Aber davon ahnt unser Innerstes ja nichts, woher sollte es das auch wissen?
Dafür macht es seinen Job absolut gewissenhaft.
Ein Körper, der Verlust kennt, spürt ihn schon in der Ahnung.
Ein Körper, der Unzuverlässigkeit kennt, findet sie fast magnetisch.
Ein Körper, der Nähe als etwas kennengelernt hat, das Schmerz verursacht, schreckt gern mal zurück, wenn sie plötzlich real wird.
Unser Bindungsverhalten entsteht nicht aus unserem Charakter. Unser Bindungsverhalten entsteht aus unserer Geschichte.
Warum Bindungsmuster sich wie Schicksal anfühlen
Wir reagieren, ohne nachzudenken.
Wir schützen uns, ohne es zu wollen.
Wir erschrecken vor Nähe, obwohl wir uns nach ihr sehnen.
Wir klammern uns an Menschen, die uns nicht gut tun.
Wir ziehen uns zurück, wenn jemand uns wirklich sieht.
Wir fragen uns, warum wir immer wieder so reagieren und kommen zu der Erkenntnis: „So bin ich halt“. Wir sind aber nicht so – wir wurden nur so geprägt.
Was uns einmal das Leben gerettet hat, wiederholt sich später als Beziehungsmuster.
Dein Körper arbeitet niemals gegen dich.
Er hält sich nur leider strikt an eine veraltete Arbeitsplatzbeschreibung.
Die gute Nachricht:
Unser Nervensystem lernt ein Leben lang.
Alte Erfahrungen können überschrieben werden und zu neuen Mustern werden. Allerdings kommt Heilung kommt selten im ICE daher, eher mit der Bimmelbahn oder der Pferdekutsche – aber sie ist möglich. Immer.
Heilung beginnt nicht bei den anderen
Wie wir uns binden und wie wir lieben, das verändern wir nicht durch Willenskraft – was es braucht, ist ein neues Verständnis von Sicherheit. Was fühlt sich für mein Nervensystem gut an? Wo kann es entspannen und ohne Drama seine Schutzfunktionen runterfahren?
Sowas geschieht selten mit dem Entschluss: „Ab heute werd ich …“
Das gilt für den Umgang mit anderen Menschen, uns selbst, unserem Essverhalten oder was auch immer.
Alles erfüllt einen Zweck. Unser Handeln ist niemals sinnlos (wenn es auch so erscheinen mag).
Es ist immer das Resultat unserer Muster, die uns irgendwann mal gelehrt haben, was sicher (vertraut) und was unsicher (fremd) ist.
Es braucht Zeit, aber wir können lernen,
Dafür braucht es eine gewisse Regelmäßigkeit. Vertrauen und Sicherheit entsehen nicht von jetzt auf gleich.
Somatische Übung für sichere Bindung
Babys werden gehalten. Selbst als Erwachsene wiegen wir andere sanft hin und her, wenn sie trauern, weinen, etc. und auch das „Hin- und Herwackeln“, das man von Menschen mit schweren psychischen Problemen kennt, ist letztlich nur der Versuch, durch Bewegung und Rhythmus für die Regulierung eines gestressten / überforderten Nervensystems zu sorgen.
Somatische Übungen sind deshalb auch unheimlich stark, wenn es darum geht, ein neues Gefühl von Sicherheit zu verankern.
Vielleicht magst du`s ja mal ausprobieren.
„Die innere Anlehnung“
- Lehne dich an eine Wand, ein Kissen, den Bettrahmen – etwas Stabiles.
Nicht hart, eher wie ein stiller Rücken, der einfach da ist. - Atme ein, als würdest du dich innerlich ausdehnen.
- Atme aus, und stell dir vor, dein Gewicht darf ein Stück mehr abgegeben werden.
Du musst dich nicht „fallenlassen“ – nur abgeben. - Spüre, wie die Wand dich trägt, ohne etwas von dir zu wollen.
Ohne Urteil.
Ohne Erwartung. - Sage innerlich:
„Ich darf mich anlehnen.“
„Ich muss nicht alles selbst halten.“ - Bleib ein paar Atemzüge. Oder länger, wenn dein Körper das mag.
- Spüre einfach eine Weile nach, wie es sich anfühlt, locker zu lassen und dennoch nicht zu fallen.
Diese Übung beruhigt das Bindungssystem, weil sie das Gefühl von Unterstützung vermittelt – ein Gefühl, das viele von uns nie zuverlässig kannten.
Bindung ist ein Heimkommen
Nicht zu anderen.
Zuerst zu uns.
Ich glaube, wir sehnen uns nach Menschen, die bleiben, weil wir uns selbst noch nicht gefunden haben. Und vielleicht ist der größte Zauber der Heilung, dass wir irgendwann merken:
Ich darf sein,
mit all meinen Geschichten,
mit all meinen Rissen,
und es gibt einen Ort –
in mir oder bei einem anderen Menschen –
an dem nichts davon zu viel ist.
Alles Liebe dir!
Rebecca | Schreibtrunken





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